Sebastian Schröder
Wer glaubt, Kühe und Rinder würden ein völlig unaufgeregtes Leben führen, der irrt gewaltig. Denn sie stehen nicht nur auf der Weide, fressen Gras, käuen wieder, muhen ab und zu oder buhlen um die Gunst junger Bullen. Ein Blick in die frühneuzeitliche Kleinstadt Lübbecke im äußersten Nordosten Westfalens zeigt, dass genau das Gegenteil der Fall war! Überall lauerten Gefahren und Herausforderungen für das Hornvieh. Das sogenannte Bruchprotokoll erzählt von allerlei Begebenheiten aus dem Alltag einer Lübbecker Kuh. Im 17. und 18. Jahrhundert, als ein städtischer Schreiber diese Aufzeichnungen zu den Brüchen, also den Feldmarkgebieten, notierte, besaß nahezu jeder Bürger der Stadt mindestens ein Rindvieh, meistens sogar mehrere. Dabei galt eine Obergrenze, die sich an der Größe der bürgerlichen Besitzung orientierte. Außerhalb der Stadtmauern lag die sogenannte Feldmark, die ihrerseits in vier Bezirke eingeteilt war: das Nieder-, Wester- und Osterbruch sowie die Masch, die den Jungtieren vorbehalten war, während die milchgebenden Huftiere in den Brüchen fressen durften. Dort konnten die Stadtbewohner ihre Kühe unter Aufsicht von drei Hirten hüten lassen, die jährlich neu vereidigt wurden. Die Hirten mussten schwören, dass sie sich an die Bestimmungen der Hüteordnung vom 10. April 1665 hielten. Unter anderem hatten sie die Tiere vor umherstreifenden Wölfen zu beschützen. Dazu existierten in der Feldmark Ställe, in die die Rinder nachts getrieben werden sollten. Außerdem hatten die Hirten Zäune und Absperrungen regelmäßig zu kontrollieren und darauf zu achten, dass niemand fremde Kühe melke.
Im Winter lebte das Rindvieh ganztägig in Ställen in den Stadthäusern seiner Besitzer. Erst im Mai durfte es wieder auf die Weide. Die Stadtoberen prüften dabei genau, wer überhaupt berechtigt war, Kühe in der Feldmark zu treiben. Im Jahr 1683 entdeckten die Stadtbediensteten beispielsweise vier Tiere des landesherrlichen Amtsschreibers, die dieser widerrechtlich den Hirten zur Beaufsichtigung unterstellt hatte. Diese Kühe wurden von der städtischen Obrigkeit daraufhin gepfändet. Gegen einen silbernen Löffel löste der Amtsschreiber sein Vieh allerdings wieder aus.
Die Weidezeit endete gewöhnlich am 29. September, dem Michaelstag. Sofern es das Wetter jedoch zuließ, konnte sich die Saison um zwei Wochen verlängern – die Zeitgenossen sprachen vom „Nachhüten“.
Dreimal täglich, nämlich um fünf Uhr morgens, mittags um 11 Uhr und am Abend, trieb der Hirte alle Kühe zusammen, damit sie gemolken werden konnten. Das Melken an einem Ort hatte den Zweck, dass man alle Melker genau im Blick behalten konnte. Die Hirten durften übrigens von den melkenden Personen keine Geschenke annehmen. Offenbar gab es Beschwerden, dass die Hirten bestechlich seien und Vergehen der Melker nicht anzeigten. Im Gegenzug beschuldigten die Kuhhirten die Knechte und Mägde, Scheltworte zu rufen. Überdies seien letztere schläfrig und wenig zuverlässig.