Von ertrunkenen Kühen und erschlagenen Rindern – das Lübbecker Bruchprotokoll berichtet über die Geschichte der Tierhaltung in einer frühneuzeitlichen Kleinstadt

27.11.2020 Dorothee Jahnke

Kuhherde im hessischen Lahn-Dill-Kreis, 1963. Foto: Gerda Schmitz. Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 0000.26653.

Sebastian Schröder

 

Wer glaubt, Kühe und Rinder würden ein völlig unaufgeregtes Leben führen, der irrt gewaltig. Denn sie stehen nicht nur auf der Weide, fressen Gras, käuen wieder, muhen ab und zu oder buhlen um die Gunst junger Bullen. Ein Blick in die frühneuzeitliche Kleinstadt Lübbecke im äußersten Nordosten Westfalens zeigt, dass genau das Gegenteil der Fall war! Überall lauerten Gefahren und Herausforderungen für das Hornvieh. Das sogenannte Bruchprotokoll erzählt von allerlei Begebenheiten aus dem Alltag einer Lübbecker Kuh. Im 17. und 18. Jahrhundert, als ein städtischer Schreiber diese Aufzeichnungen zu den Brüchen, also den Feldmarkgebieten, notierte, besaß nahezu jeder Bürger der Stadt mindestens ein Rindvieh, meistens sogar mehrere. Dabei galt eine Obergrenze, die sich an der Größe der bürgerlichen Besitzung orientierte. Außerhalb der Stadtmauern lag die sogenannte Feldmark, die ihrerseits in vier Bezirke eingeteilt war: das Nieder-, Wester- und Osterbruch sowie die Masch, die den Jungtieren vorbehalten war, während die milchgebenden Huftiere in den Brüchen fressen durften. Dort konnten die Stadtbewohner ihre Kühe unter Aufsicht von drei Hirten hüten lassen, die jährlich neu vereidigt wurden. Die Hirten mussten schwören, dass sie sich an die Bestimmungen der Hüteordnung vom 10. April 1665 hielten. Unter anderem hatten sie die Tiere vor umherstreifenden Wölfen zu beschützen. Dazu existierten in der Feldmark Ställe, in die die Rinder nachts getrieben werden sollten. Außerdem hatten die Hirten Zäune und Absperrungen regelmäßig zu kontrollieren und darauf zu achten, dass niemand fremde Kühe melke.

Im Winter lebte das Rindvieh ganztägig in Ställen in den Stadthäusern seiner Besitzer. Erst im Mai durfte es wieder auf die Weide. Die Stadtoberen prüften dabei genau, wer überhaupt berechtigt war, Kühe in der Feldmark zu treiben. Im Jahr 1683 entdeckten die Stadtbediensteten beispielsweise vier Tiere des landesherrlichen Amtsschreibers, die dieser widerrechtlich den Hirten zur Beaufsichtigung unterstellt hatte. Diese Kühe wurden von der städtischen Obrigkeit daraufhin gepfändet. Gegen einen silbernen Löffel löste der Amtsschreiber sein Vieh allerdings wieder aus.

Die Weidezeit endete gewöhnlich am 29. September, dem Michaelstag. Sofern es das Wetter jedoch zuließ, konnte sich die Saison um zwei Wochen verlängern – die Zeitgenossen sprachen vom „Nachhüten“.

Dreimal täglich, nämlich um fünf Uhr morgens, mittags um 11 Uhr und am Abend, trieb der Hirte alle Kühe zusammen, damit sie gemolken werden konnten. Das Melken an einem Ort hatte den Zweck, dass man alle Melker genau im Blick behalten konnte. Die Hirten durften übrigens von den melkenden Personen keine Geschenke annehmen. Offenbar gab es Beschwerden, dass die Hirten bestechlich seien und Vergehen der Melker nicht anzeigten. Im Gegenzug beschuldigten die Kuhhirten die Knechte und Mägde, Scheltworte zu rufen. Überdies seien letztere schläfrig und wenig zuverlässig.

Hirte mit Hund und Rinderherde, hessischer Lahn-Dill-Kreis, 1963. Foto: Gerda Schmitz. Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 0000.27322.

Neben den Alltäglichkeiten des Kuhhütens berichtet das Bruchprotokoll von Unglücksfällen in der Lübbecker Feldmark. Am 7. Juni 1686 beschwerte sich der Lübbecker Bürger Christopher Feger, dass eine seiner Kühe in einem Graben verendet sei, weil der Hirte seinen Eidespflichten nicht gehörig nachgekommen sei. Eines von Fegers Rindern sei in einem mit nur wenig Wasser gefüllten Graben ums Leben gekommen. Vermutlich hatte das Tier dort saufen wollen. Feger klagte, dass der Hirte strafbarerweise abwesend gewesen sei. Dieser entgegnete, er könne nicht immer überall zur Stelle sein. Außerdem habe er seinen Dienstjungen beauftragt, das Vieh zu beobachten, während er selbst an einem anderen Ort Kühe zusammengetrieben habe. Als der Junge das Rind im Graben erblickt habe, sei er sofort nach Hause gerannt, um seine Mutter um Hilfe zu rufen. Als diese und der Hirte eintrafen, habe das Tier noch gelebt. Der klagende Feger war mit dieser Aussage unzufrieden und bat die städtische Obrigkeit, den Ort des Geschehens in Augenschein zu nehmen. Die Stadtoberhäupter fanden das leblose Tier vor, erkannten aber, dass der Kopf des Rindes auf einer Anhöhe lag, sodass ein Ertrinken ausgeschlossen wurde. Eine gesunde Kuh hätte sich aus eigenen Kräften aus der misslichen Lage befreien können, meinten sie. Schließlich einigten sich die Konfliktparteien auf einen Kompromiss: Der Hirte zahlte Schadensersatz für das verstorbene Tier, allerdings nicht in der üblichen Höhe.

Gut ein Jahr später, im August 1687, verendeten wiederum zwei Rindviecher in Gräben. Der Hirte Johan Winter war mit dem Mähen des Roggens beschäftigt gewesen und hatte seinem Sohn Caspar Hermann, seinem Knecht und seinem Dienstmädchen deshalb aufgetragen, die Kühe an seiner Stelle zu hüten. Am 7. August 1687 gegen 16 Uhr sei das Mädchen eilig und lauthals schreiend zum Haus Winters gelaufen und habe gerufen, dass zwei Tiere im Graben lägen, wovon das eine bereits tot sei, das andere um Atem ringe. Währenddessen hätten weitere herbeigerufene Hirtenjungen verzweifelt versucht, den Kopf der noch lebenden Kuh anzuheben und die in der Erde feststeckenden Hörner zu befreien. Letztlich gelang es ihnen aber nicht, das Rind zu retten. Die hinzugezogenen Vertreter der Stadt befanden, dass sich das Tier den Hals gebrochen habe und demzufolge seinen Verletzungen erlegen sei. Den Hirten treffe an dem Unglück – entgegen den Anschuldigungen der wütenden Besitzer der Kühe – keine Schuld. Seine Dienstjungen hätten ihre Aufgabe sehr gut verrichtet, ein grob fahrlässiges Handeln sei nicht zu erkennen.

Doch nicht nur Gräben stellten eine Gefahr dar, sondern auch umstürzende Bäume. So erschlug ein großer alter Eichenbaum am 26. Juni 1687 die Kuh des Johan Hinrich Barre. Als die städtische Obrigkeit den Ort des tragischen Unfalls besichtigte, stellte sie mahnend fest, dass man dem Hirten Johan Winter schon vor geraumer Zeit befohlen hatte, den Baum zu fällen. Denn bereits seinerzeit war die Standsicherheit nicht gewährleistet gewesen. Winter hatte zwar versprochen, die Gefahr zu beseitigen, doch er kam seiner Zusage nicht nach. Zu groß war seine Sorge, dass die stattliche Eiche auf die eigene Hirtenhütte fallen könnte. Er betonte aber, dass er die Kuhherde weit genug von dem Baum entfernt habe weiden lassen. Allerdings sei Barres Rind unbemerkt von der Herde entwichen und ausgerechnet in diesem Augenblick von der umstürzenden Eiche getroffen worden. Zunächst habe sich das Rind wieder auf seine Vorderbeine gestellt, sei kurze Zeit später aber tot zusammengebrochen. Zur Strafe, dass er den Baum nicht umgehend gefällt hatte, musste der Hirte Schadensersatz leisten. Allerdings durfte er das Holz der Eiche verkaufen, um die Summe aufbringen zu können.

Wölfe, Gräben, umstürzende Bäume, Milchdiebe, unachtsame Hirten und die Möglichkeit, gepfändet zu werden – die Rinder und Kühe in der Lübbecker Feldmark führten ein ganz schön aufregendes Leben! Von all diesen Ereignissen erzählt das Lübbecker Bruchprotokoll, das sich somit als eindrucksvolle Quelle erweist, um die Geschichte der Viehhaltung in einer frühneuzeitlichen Kleinstadt zu ergründen.

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Schlagworte: Sebastian Schröder · Tiere