Da über Tote nicht schlecht gesprochen oder geschrieben werden sollte, entsprachen die Texte auf den Totenzetteln häufig nicht der Realität. Das verletze aber, so der unbekannte Geistliche 1868, „gar oft den gesunden Sinn und das moralische Gefühl biederer Gemeindeglieder“, erst recht, wenn Laster und Sünden der Verstorbenen nur allzu gut öffentlich bekannt waren. Wenn nun aber, wovon der Verfasser für eine große Zahl der Fälle ausging, die Totenzettel nicht von den Hinterbliebenen selbst, sondern von den Gemeindegeistlichen formuliert wurden, ergab sich daraus für Letztere ein heikles Problem. Die Gemeindemitglieder, die die Lasterhaftigkeit des Verstorbenen aus eigener Anschauung kannten, müssten in dem Lobtext des Geistlichen auf dem Totenzettel die Unwahrheit erkennen, also in der Erwartung getäuscht werden, der Geistliche äußere stets die Wahrheit. Das allein wäre ein nicht tragbarer Zustand. Des Weiteren führe es aber dazu, dass bei gewissen Gemeindemitgliedern die Erwartung geweckt werden könnte, auch nach eigenem unchristlichem Lebenswandel, würde am Lebensende noch die schriftliche Bescheinigung des Gegenteils warten: „Er ist selig gestorben, das bezeugt der Todtenzettel; er hat lustig gelebt, das ergänzt der Leser, und so findet sich der leichtsinnige Christ bestärkt in dem Wahne, der ihn nach vergeudeten Lebensjahren ein gottgefälliges Ende hoffen lässt.“
Neben diesen Fragen der Wahrheit und Unwahrheit waren dem Autor die sprachlichen und grammatikalischen Zustände der Totenzettel seiner Gegenwart ein Grund polemischer Kritik. Dabei waren ihm die Formulierungen von „Verwandten des Verstorbenen selbst oder andere[r] Laien“ und jene von Geistlichen gleichsam kritikwürdig.
„Indessen auch die von geistlicher Hand abgefassten Todtenzettel dürften gar oft den Anforderungen einer billigen Kritik nicht genügen und zwar sowohl der Form, als dem Inhalte nach. Die Form zeigt hie und da Unrichtigkeiten, gesetzwidrige Construktionen, insbesondere gar zu viele Relativsätze und fehlerhafte Participialconstruktionen, so daß wohl manche Todtenzettel den Gymnasiasten als abschreckende Stylungeheuer vorgelegt werden könnten. Schreiber dieses hat mehrere Todtenzettel gelesen, deren bereits verstorbener Verfasser sich die sonderbare Aufgabe stellte, die wichtigsten Momente aus dem Leben des Abgeschiedenen in einem einzigen Monsterrelativsatz zusammenzudrängen.“
Allein der Begriff „Monsterrelativsatz“ erscheint als bemerkenswerte Formulierung für das Jahr 1868. Und weiter nach einem Beispiel:
„Wieder andere Todtenzettel schmecken nur zu sehr nach dem schwülstigen Bombast der Aufsätze eines phantastischen Obersecundaners oder erinnern an die phrasenhafte Hohlheit vieler protestantischen Leichenreden. Ein Exemplar liegt uns vor, welches wir wohl als non plus ultra in dieser Hinsicht bezeichnen dürfen, – ein Erguß überschwänglicher Poesie, der dem Verfasser von gefühlvollen Leserinnen wohl ein ‚O wie herrlich‘, von verständigen Lesern aber ein mitleidiges Lächeln eingetragen haben mag.“
Was der Autor von protestantischen Texten hielt, machte er ebenso nebenbei deutlich, wie die Unterscheidung von Leserinnen als „gefühlvoll“ und Lesern als „verständig“. Vor allem aber mag es ihm um die Sensibilisierung anderer Totenzettel-Verfasser gegangen sein, hinsichtlich dessen, was er selbst als schlechten Stil empfand sowie für die Orientierung an der Wahrheit.
„Und der Inhalt der Todtenzettel! Wie oft thut er der Wahrheit Zwang an, wie oft verleugnet er die Regeln taktvoller Rücksicht! Die Verstorbenen waren alle geduldig in ihrer letzten Krankheit. Wollte Gott, dem wäre so!“
Um es nicht bei dieser Polemik zu belassen, lieferte der Verfasser wenig später eine Anleitung zum Anfertigen von Totenzetteln nach. Um sich nicht zwischen unwahrhaftigem Lob und unangemessenem Tadel entscheiden zu müssen, sollten Charakterisierungen von Verstorbenen auf Totenzetteln folglich am besten ganz entfallen.
„Er [der Totenzettel] gebe die Hauptdata aus dem Leben des Verstorbenen, die Zeit der Geburt, die Verehelichung, des Todes. Diese Zeitangaben sind von Interesse für die Verwandten, denen namentlich der Todestag heilig bleibt. Bekleidete der Verstorbene ein öffentliches Amt, so mag die Zeit der Verwaltung desselben aufgenommen werden. Weiterer Notizen bedarf es nicht. Für eine Biographie läßt sich, wenn sie überhaupt wünschenswerth ist, unschwer anderweitig eine passende Stelle finden. – Aber soll der Todtenzettel denn gar nicht den sittlichen Lebenswandel des Verstorbenen besprechen, auch nicht einmal eine kurzgefaßte Charakterschilderung von demselben geben? Unsere Meinung ist: ‚Nein, im Allgemeinen nicht.‘“