Marcel Brüntrup
Der Familienvater im Sonntagsstaat steht neben dem Klavier und blickt über die Köpfe seiner Töchter hinweg zum festlich geschmückten Weihnachtsbaum, der erhöht auf einem weiß gedeckten Tischchen thront. Eines der Mädchen sitzt mit dem Rücken zur Kamera am Klavier – auch sie hat den Blick zu den funkelnden Christbaumkugeln erhoben, so dass man im Profil ein leises Lächeln erahnen kann. Ihre Schwester sitzt daneben und studiert einen Bogen Papier in ihren Händen, vermutlich Text und Noten eines Weihnachtsliedes. Die sorgsam auf dem Klavier drapierten Porzellanfiguren, das prunkvolle Holzbarometer an der Wand und die florale Jugendstiltapete vervollständigen die Szene: Dokumentiert die im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts aufgenommene Fotografie also einen harmonischen Weihnachtsabend, den eine städtisch-bürgerliche Familie mit gemeinsamem Musizieren verbringt? Nein, denn hier setzte sich eine bäuerliche Familie in Szene, die ein Foto vom bürgerlich anmutenden Ambiente ihres familiären Weihnachtsfestes in ihr Fotoalbum klebte, so dass sich ein bildlicher Beleg ihrer Weihnachtsfeier über hundert Jahre hinweg erhalten hat. Betrachtet man die gesamte Seite, auf der das Bild ins Album eingeklebt wurde, wird der bäuerlich-ländliche Lebenszusammenhang der Familie ersichtlich. Um das Weihnachtsmotiv herum finden sich Fotos der beiden Mädchen, die in anderen Jahreszeiten aufgenommen wurden: auf dem Bauernhof der Familie und im Grünen, mit dem Hofhund und umgeben von freilaufenden Hühnern.
Das vorliegende Album ist Teil eines Bestands, der insgesamt 90 Fotoalben und vier Einzelbild-Konvolute aus bäuerlich-ländlichen Haushalten in Westfalen umfasst. Sie wurden im Rahmen eines Sammlungs-, Dokumentations- und Forschungsprojekts der Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen gesammelt und digitalisiert. Die in den Alben enthaltenen Fotografien entstanden zum überwiegenden Teil im 20. Jahrhundert und bieten aus der Warte der bäuerlichen Familien wertvolle Einblicke in unterschiedliche Aspekte des zeitgenössischen ländlichen Alltagslebens und seines Wandels. Dazu gehören beispielsweise Fotografien vom bäuerlichen Hof und Grundbesitz, von landwirtschaftlichen Arbeiten und Arbeitsgeräten, von auf dem Hof lebenden Tieren sowie von Ausflügen, Reisen und Freizeitaktivitäten. Zu den häufigsten Motiven zählen Familienzusammenkünfte anlässlich traditioneller Übergangsrituale wie Taufe, Kommunion, Geburtstag und Hochzeit – und Feste und Feiern, die den Arbeitsalltag durchbrechen wie beispielsweise das Weihnachtsfest.
Die oben beschriebene Fotografie stellt innerhalb des Bestands allerdings eine Besonderheit dar, denn aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegen auffällig wenige Aufnahmen vor, die als Weihnachtsfotos zu identifizieren sind. Möglicherweise ist das damit zu erklären, dass sich die im Bürgertum beliebte Ausgestaltung dieses Festtages, im engsten Kreis der Familie und mit einem Christbaum in der eigenen Wohnstube, nur langsam in Westfalen durchsetzte. Vor allem auf dem Land lebende katholische Familien taten sich zunächst schwer, Symbole des städtisch-bürgerlichen Weihnachtsfestes wie den Weihnachtsbaum oder die Hausmusik zu übernehmen. Wie selten etwa Weihnachtsbäume in Privathäusern noch bis in die 1920er Jahre hinein waren, belegen Berichte aus dem Archiv für Alltagskultur. Dort heißt es, dass die Kinder zu dieser Zeit sonn- und feiertags durch die Nachbarschaft zogen und diejenigen Häuser besuchten, die bereits über einen geschmückten Baum verfügten. Gemeinsam sangen sie dort Weihnachtslieder und ließen sich mit Äpfeln, Nüssen und Gebäck beschenken.