„Weihnachten soll ein Friedensfest sein, aber warte nur, dir kommt auch noch die Rache!!!“

17.12.2024 Niklas Regenbrecht

Timo Luks

Vor einiger Zeit habe ich an dieser Stelle über Anni Topheides Fahrradausflüge und Fotoalben geschrieben. Fotoalben wie auch einige Tagebücher sind in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster überliefert und inzwischen digital verfügbar. Zu den wiederkehrenden Themen gehören Schilderungen von Arbeit und Freizeit. Anni Topheide absolvierte eine Ausbildung als Buchhalterin im Textilhaus Kluxen in Münster und arbeitete dort bis zu ihrem Wechsel in die örtliche Niederlassung der AEG. Bei Kluxen war das Umfeld schwierig, jedenfalls empörte sich Anni Topheide in ihren Tagebüchern immer wieder über das Verhalten des „Patriarchen“ Bernhard Kluxen. Aber natürlich schrieb Anni Topheide kein Arbeitstagebuch, sondern die Einträge bewegten sich von Lebensbereich zu Lebensbereich. Freizeit, Familie und Festtage kamen ebenso regelmäßig vor wie das Angestelltendasein in einem Textilkaufhaus. Beide Bereiche verweisen aufeinander. So hieß es 1911:

Tagebucheintrag von Anni Topheide, Weihnachten 1911.

„Weihnachten! Gott sei Dank, 2 freie Tage, ich kann es kaum fassen. Es war auch zu schlimm mit dem Betrieb im Geschäft als ich gestern Abend um ½ 10 Uhr vom Geschäft heimkam, habe ich vor Nervosität geweint. Der Kassentisch genügte nicht zum Aufzählen des Geldes, ich musste die Ladentheke mit benutzen, und da konnten die Augen des Bernh. Kluxen lachen als er die Geldstücke durch meine Hände gleiten sah u. die schöne Endsumme über 4000 MK. Tageskasse war. Sonst hat er kein Lächeln für seine Angestellten u. nicht mal ein frohes Fest wünscht er ihnen, viel weniger ein Geschenk für die, die durch ihre Schweißtropfen ihm das Geld einbringen. Weihnachten soll ein Friedensfest sein, aber warte nur, dir kommt auch noch die Rache!!!

Unser Weihnachtsfest daheim war schön, es ist überhaupt alles bei uns zu Hause so traut, so friedlich, gerade als lebten wir in unserem Häuschen in einer Welt für uns.“

Die Passage – und vor allem der überganglose Wechsel vom Kaufhaus zum Zuhause – wirft eine wichtige Frage auf: Wie kann es gelingen, den Schalter umzulegen, also von Arbeits- zu Festtagsstimmung zu kommen, zumal dann, wenn die Arbeit erst kurz vor den Feiertagen pausiert? Anni Topheide scheint das durch Tagebuchschreiben bewerkstelligt zu haben. Der Eintrag zum letzten Arbeitstag ist direkt am folgenden Morgen entstanden, so als hätte sie sich ihre negativen Erlebnisse noch von der Seele schreiben müssen, um sie für zwei Tage abhaken zu können und nicht in die Weihnachtstage mitzunehmen. Gleichzeitig benutzt die junge Buchhalterin eine verbreitete Vorstellung von Weihnachten, um das Verhalten ihres Chefs ins rechte, in diesem Fall: in ein ungünstiges Licht zu rücken. Die eigentlichen Weihnachtschilderungen scheinen nach dem Fest als eine Art wohlige Bilanz formuliert und niedergeschrieben worden zu sein. Die Festtage zuhause, „traut“ und „friedlich“, markieren so eine Art emotionaler Pufferzone und Ruhepause. Jenseits der Invektiven in Richtung „des Bernh. Kluxen“ wird in der kurzen Tagebuchpassage aber noch etwas deutlich: „Weihnachten“ war bereits 1911 ein Fest mit doppelter Bedeutung: als kommerzielle Veranstaltung mit regem „Betrieb“ im Kaufhaus und als besinnliches Familienfest.

 

Literatur

Franke, Klaus-Dieter: Die Tagebücher der jungen Anna Topheide (verheiratete Höing) aus Münster 1908–1929. Von weiblicher Aneignung der Welt in schwierigen Zeiten, Münster 2019, URL: https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:6-33109453756.

Topheide, Anni, Tagebuch 1, 4/1908–11/1913, Nachlass Höing, Signatur: N. Höing 1,001, Digitalisat: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:6:1-246099.

Universitäts- und Landesbibliothek Münster: Nachlass Anni Höing (https://www.ulb.uni-muenster.de/sammlungen/nachlaesse/nachlass-hoeing.html)

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Schlagworte: Timo Luks · Weihnachten