Wer weiß was?
Frühneuzeitliche Zeugenbefragungen geben Einblicke in den Alltag der Zeitgenossen
Von Sebastian Schröder
In den 1570er-Jahren herrschte ein erbitterter Streit zwischen dem Fürstbistum Minden und der Grafschaft Diepholz. Beide Territorien grenzten nördlich des mindischen Amts Rahden aneinander; in Blickweite lag zudem das Hochstift Osnabrück. Genau diese Grenzsituation im Bereich des zum Mindener Herrschaftsbereich zählenden Kirchspiels Dielingen sorgte immer wieder für Reibereien. Konkret ging es etwa um die Nutzungsrechte des sogenannten Stemweder Berges, der Dielinger und Drohner Mark oder des Dümmer Sees. Die Mindener Räte und Kanzlisten beschrieben hunderte Bögen Papier in dem Grenzstreit. Sie vernahmen Zeugen, fertigten Protokolle, entwarfen Berichte und verfassten gerichtliche Gutachten.
Die überlieferten Akten bieten heutzutage die Möglichkeit, tiefe Eindrücke vom Alltag und Leben der Zeitgenossen des 16. Jahrhunderts zu erhalten. Etwa lässt sich danach fragen, woran sich die befragten Zeugen eigentlich vornehmlich erinnerten. Oder anders ausgedrückt: Welche Ereignisse brannten sich in ihr Gedächtnis ein und überdauerten auf diese Weise die Zeit?
Nicht weniger als 574 Artikel umfasst ein um 1575 datiertes Zeugenprotokoll zum oben erwähnten Grenzkonflikt. Es hat sich im Bestand der Mindener Regierungsbehörde erhalten. Zu Wort kamen vor allem alte Männer, von denen man annahm, dass sie viele Jahrzehnte überblicken konnten. Johann Steinbrecher genannt Gerke sei in Stemshorn, das zur Grafschaft Diepholz gehörte, geboren worden und bewirtschafte nunmehr ein Gehöft im Kirchspiel Dielingen. Ungefähr 50 Jahre könne er sich zurückerinnern. Steinbrecher sagte aus, dass der Stemweder Berg stets von den Herren von Diepholz und Minden gemeinsam verwaltet worden sei. Um seine Aussage zu bekräftigen, führte er mehrere vergangene Begebenheiten an. So hätten die Grafen von Diepholz an jedem Neujahrsabend Holz im strittigen Bezirk geschlagen – „nach altem Gebrauch“ und Herkommen. Doch vor circa fünf Jahrzehnten protestierte ein Mindener Holzwärter gegen dieses Vorgehen. Es sei daraufhin zu einem Handgemenge gekommen, in dem der Mindener Dienstmann den Diepholzer Holzfäller mit einem Spieß auf den Kopf geschlagen und schwer verwundet habe. Die Diepholzer hätten die Tat aber nicht ungesühnt gelassen. Zu dritt seien sie ins mindische Oppendorf gezogen, wo der Holzwärter mit seinem Knecht „zechte“. Sie seien in das Haus gestürmt, hätten den Mindener Bediensteten gepackt und ihn getötet.