Westfalen als „Wanderland“ – Fotografien aus dem Nachlass Richard Schirrmanns

07.06.2024 Marcel Brüntrup

Barbara Stambolis

Burg Altena um 1912, 07_845 LWL Slg Schirrmann (Bildausschnitt in „Wanderwelten“, S. 49).

Jubiläumsimpulse – visuelles Gedächtnis Westfalens

Im Jahre 2024 jährt sich der Geburtstag der Jugendherbergs-Gründer Richard Schirrmann (1874-1961) und Wilhelm Münker (1874-1970) zum 150sten Male. Schirrmann war nicht nur ein engagierter Volksschullehrer und Reformpädagoge, sondern auch ein leidenschaftlicher „Knipser“. Er besaß eine umfangreiche fotografische Sammlung. Schirrmanns jüngste Tochter Gudrun (geb. 1942) vertraute diesen Teil des Nachlasses ihres Vaters dem LWL-Medienzentrum für Westfalen an. Dort begann im Vorfeld der Feiern zum 100sten Bestehen der Jugendherbergen im Jahre 2009 die Digitalisierung. Der Bestand hat mittlerweile in der Bilddatenbank des Medienzentrums seinen allgemein zugänglichen Platz gefunden.

Im Innenhof der Burg Altena, 07_836 LWL Slg Schirrmann.
Richard Schirrmann mit einer Schülerwandergruppe um 1910 beim Essen kochen, im Hintergrund die Fahne der Wandervogelbewegung, 07_883 LWL Slg Schirrmann.

Erschienen ist der Band „Wanderwelten“, der eine Auswahl dieser Fotografien präsentiert, in hoher drucktechnischer Qualität im Tecklenborg Verlag als Band 13 der Reihe „Aus Westfälischen Bildsammlungen“. Einleitend reflektieren der Historiker Markus Köster, der Fotograf Stephan Sagurna und die empirische Kulturwissenschaftlerin Christiane Cantauw über technische Entwicklungen der Fotografie, Verwendungsweisen und Adressaten dieser visuellen Quellen und anderes mehr. Auf diese Weise werden Perspektiven für weitere Nutzungsmöglichkeiten eröffnet. Im Bildteil geht es schwerpunktmäßig um Jugendherbergszusammenhänge, aber auch um den Fotografen und seine Familie, Schirrmanns Soldatenzeit im Ersten Weltkrieg sowie ein reformpädagogisches Projekt Schirrmanns in der Senne bei Paderborn.

Wandern in „bewegter“ Zeit: Jugendlicher Aufbruch im Wandervogel

Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist von Auf- und Umbrüchen gekennzeichnet. „In Bewegung“ gerieten Mitglieder etlicher reformfreudiger Gruppierungen und Initiativen, die Kritik an der wilhelminischen Gesellschaft mit zukunftsoptimistischen Perspektiven verbanden. „Jugend“ und „Jugendlichkeit“ entwickelten sich zu symbolträchtigen Leitvokabeln für gesellschaftliche Erneuerung. Auch die Anfänge der historischen „Jugendbewegung“ fügen sich in diese Zusammenhänge ein. Zumeist bürgerliche Heranwachsende waren in Wandervogelgruppen an Wochenenden oder während der Schulferien in der Natur unterwegs, sie übernachteten in Scheunen, versammelten sich singend um Lagerfeuer und richteten sich einfache Unterkünfte für ihre regelmäßigen Zusammenkünfte, „Nester“ genannt, ein. Richard Schirrmann und Wilhelm Münker gehörten dem Wandervogel an.

Zeithorizonte: Wandertage, Heimatkunde, Gesundheitserziehung

Das Wandern erfuhr in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einen breiten Zuspruch. Lehrer schrieben über den erzieherischen Wert von Wandertagen, Schulspaziergängen und deren heimatkundliche Bedeutung. Kindern und Jugendlichen aus städtischen, oft prekären Verhältnissen nahm sich Richard Schirrmann an, der mit großem Engagement den Gedanken verfolgte, „Volksschülerherbergen“ einzurichten. Er warb in Wandervereinen und vor Lehrerversammlungen für die Idee, günstige Übernachtungsmöglichkeiten für Schüler:innen zu schaffen, damit sie sich naturnah erholen konnten.

Im Rahmen von „Jugendwandertagen“ fand er Resonanz und ging vor allem selbst mit Schulklassen auf Wanderschaft. Die meisten seiner Schüler:innen hatten vor ihren Ausflügen in die Natur, zumeist ins Sauerland, kaum Berührung mit naturnahen Umgebungen gehabt. 1909 soll Schirrmann bereits die Idee für einfache, praktische und zugleich einladende Wander-Unterkünfte gekommen sein. 1911/12 nahm die erste Jugendherberge in Altena ihren Betrieb auf.

Lehrerseminaristen Soest in Altena 1912, 07_624 LWL Slg Schirrmann.
Richard Schirrmann (stehend links) bei einem Treffen des Kronacher Bundes der Altwandervögel in Höxter 1922, Bildarchiv Julius Groß, Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein F1_89_40.

Richard Schirrmann und Wilhelm Münker waren Kinder ihrer Zeit. Sie waren im Kaiserreich aufgewachsen. Die öffentlichen Diskurse und gesellschaftlichen Debatten der Jahrzehnte vor und nach 1900 kreisten um „Nation“ und „Volkskraft“. Schirrmann sah sein Engagement ausdrücklich auch in nationalem Zusammenhang. Die katastrophenreiche deutsche Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts veränderte Schirrmanns und Münkers Denken. Aus heutiger Sicht wirken manche ihrer Gedanken irritierend und befremdlich. Wandern war für sie ein vornehmlich „deutsches“ Phänomen.

Markus Köster nimmt in „Wanderwelten“ die mangelnde Distanz Schirrmanns gegenüber dem Nationalsozialismus in den Blick. Münker reagierte mit Kritik auf touristische Entwicklungen nach 1945. Beide Herbergsgründer begegneten motorisierten, rauchenden und modisch gekleideten jungen Gästen mit weitgehendem Unverständnis.

Perspektiven

Zahlreiche Fotos der fotografischen Sammlung Schirrmann sind Ausdruck seiner reformpädagogischen Parteiergreifung für Heranwachsende, die unter prekären Verhältnissen aufwuchsen. Manche dieser Fotografien dokumentieren historische Orte, die heute so nicht mehr bestehen. Viele geben regionalgeschichtlich interessante Einblicke.

Viele regen zum Vergleich an: Richard Schirrmann war ein „Knipser“, kein professioneller Fotograf. Wenn der Lehrer mit Schüler:innen oder im Kreise von Mitgliedern des Sauerländischen Gebirgsvereins unterwegs war, Menschen, Stimmungen und Landschaftsimpressionen festhielt, folgte er oft zeitgenössischen, jugendbewegt inspirierten Motiven und ihrer Bildästhetik. Beliebt waren Aufnahmen von Gruppen im Gegenlicht und aus Untersicht, Ausblicke durch Torbögen von Burgen und Gruppen in Bewegung, die auf die Bildbetrachter:innen zukommen. Schirrmanns Fotos ähneln hin und wieder denen, die ein Profi wie beispielsweise Julius Groß (1892-1986), „der“ Wandervogelfotograf, sie aufgenommen hat. Sie unterscheiden sich aber auch, nicht zuletzt in technischer Hinsicht.

Julius Groß und Richard Schirrmann sind sich wiederholt begegnet. Ersterer hat Schirrmann im Kreise von „Kronachern“, älteren Wandervögeln, fotografiert. Einige der Groß’schen Aufnahmen dokumentieren Werbekampagnen für das Jugendherbergswesen.

Literatur

Jürgen Reulecke, Barbara Stambolis (Hg.): 100 Jahre Jugendherbergen 1909-2009. Anfänge- Wandlungen – Rück- und Ausblicke, Essen 2009.

Barbara Stambolis, Markus Köster (Hg.), Zur visuellen Geschichte „bewegter Jugend“ im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016.

Barbara Stambolis: Jugendbewegungen. Aufbruch und Selbstbestimmung 1871–1918, Wiesbaden 2023.

Wanderwelten

Jugend und Jugendherbergen in Fotografien der Sammlung Richard Schirrmann. Herausgegeben vom LWL-Medienzentrum für Westfalen und der Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen.
176 Seiten, 150 Abbildungen, SW-Duoton und Farbe, gebunden 22 x 26,5 cm.
ISBN: 978-3-949076-25-1 , Preis: 24,80 Euro.
Erhältlich ab 15. Mai im Buchhandel, beim Tecklenborg-Verlag
und im Westfalen-Medien Shop: http://www.westfalen-medien-shop.lwl.org