Zu wenig zum Leben und zum Sterben zu viel? Eine Witwenpension aus der Allgemeinen Witwenverpflegungsanstalt

01.09.2023 Marcel Brüntrup

Michael Rosenkötter

Am 27. Juli 1859, gut fünf Wochen nach dem Tod ihres Ehemannes, des Steueraufsehers Rosenkötter in Münster, erhielt dessen Ehefrau Henriette, geborene Jacoby, Post von der „Generaldirektion der Königlichen Preußischen allgemeinen Witwen-Verpflegungsanstalt“. So lange sie lebe und unverheiratet sei, stehe ihr ab dem 1. Oktober des darauffolgenden Jahres eine jährliche Pension von 75 Reichstalern zu. Die Pension werde in halbjährlichen Raten zu 37 Reichstalern und 15 Silbergroschen gegen Quittung ausgezahlt.

Heute würde man eine Mitteilung über Renten- oder Pensionsansprüche als Selbstverständlichkeit zur Kenntnis nehmen: Die Altersabsicherung ist Teil eines umfassenden Sozialversicherungssystems, zu dem auch die Kranken-, Unfall-, Pflege- oder Arbeitslosenversicherung gehören. 1859 aber, als Henriette Rosenkötter diesen Brief aus Berlin bekam, war die gesetzliche Absicherung von Witwen nur für preußische Beamte verpflichtend.

Hochzeitskonsens für den Grenzaufseher Rosenkötter mit Henriette Jacoby aus Münster

Der ehemalige Lieutenant Rosenkötter (10. Februar 1802 - 20. Juni 1859) hatte am 1. Januar 1830 eine Stelle als Grenzaufseher in der preußischen Provinz Westfalen in Vreden – im westlichen Münsterland gelegen – angetreten. Mit seinem Wechsel zum Zolldienst erhoffte er sich bessere Aufstiegs- und Verdienstmöglichkeiten, um möglichst bald heiraten und eine Familie gründen zu können.

Gegen Ende des Jahres 1830 teilte ihm sein oberster Dienstherr in Münster, der Geheime Finanzrat und Provinzial-Steuerdirektor Krüger, mit, dass der „nachgesuchte Consens zu einer Verheirathung mit dem Fräulein Henriette Jacoby aus Münster“ nunmehr erteilt werde, da der zukünftige Ehemann Rosenkötter eingewilligt habe, „der Königlichen Wittwen-Verpflegungs-Anstalt beitreten zu wollen.“ Dies war eine wichtige Voraussetzung, auf der das System der Witwenpension basierte: Alle preußischen Staatsbeamten, die 250 Reichstaler und mehr im Jahr verdienten und sich verehelichen wollten, mussten der Versicherung beitreten. Auf diese Weise war dafür gesorgt, dass die Belastungen sich auf möglichst viele Schultern verteilten und Einzelne sich nicht um die Beitragszahlung herumdrückten.

Detaillierte Tabellen geben Auskunft über die Höhe der Antrittsgelder und jährlichen Mitgliedsbeiträge. Die Einlagen und Beiträge waren gestaffelt und abhängig vom Alter der Männer – zwischen 20 und 60 Jahren – und der zu versichernden Frauen bei Eintritt in die Versicherung. Lieutenant Rosenkötter war am Tag der Hochzeit 28 und Henriette 23 Jahre alt. Folglich hätte er an die Witwenkasse für eine Pension in Höhe von 75 Reichstalern im Jahr ein Antrittsgeld von 120 Reichstalern zu zahlen gehabt. Diese Antrittsgelder, die Eigentum des Versicherungsnehmers blieben, wurden verzinst. Die Zinserträge wiederum dienten der Kapitalbildung der Versicherungsgesellschaft. In dem vorliegenden Dokument ist allerdings angemerkt: „Der Einkauf oben erwähnter Pension ist ohne Antrittsgeld … geschehen“. Es konnte nicht geklärt werden, warum die Einlage nicht verlangt worden ist. Der jährliche Versicherungsbeitrag betrug für den Steueraufseher Lieutenant Rosenkötter laut Tabelle aus dem Jahr 1775: vier Reichstaler und 12 Groschen. Dies war der geringste Beitragssatz, den man zahlen konnte. Je später die Männer in die Versicherung eintraten und je größer der Altersabstand zwischen den Ehepaaren war, desto höher fielen die Beiträge aus. Auch die Auszahlungssumme war wählbar. Entschied man sich für eine sehr geringe Auszahlungssumme, so verringerte sich auch der Jahresbeitragssatz. Dieser betrug beispielsweise einen Reichstaler 12 Groschen für eine Pension in Höhe von 25 Reichstalern im Jahr. Den höchsten Beitrag musste ein 59-jähriger Mann für seine 40jährige Frau bezahlen, nämlich 10 Reichstaler 22 Groschen für eine jährliche Pension in Höhe von 25 Reichstalern.

Hinter solchen Tabellen steckte bereits ein wenig Versicherungsmathematik, stand doch bei einem verhältnismäßig alten Versicherungsnehmer, der mit einer verhältnismäßig jungen Frau verheiratet war, zu befürchten, dass nur wenige Jahresbeiträge eingezahlt werden würden und dass die Witwenpension über Jahrzehnte ausgezahlt werden müsste. Andererseits konnte man bei verhältnismäßig jungen Versicherungsnehmern mit etwa gleichaltrigen Ehefrauen (wie im Fall Rosenkötter) davon ausgehen, dass diese viele Jahre lang in die Versicherung einzahlen und ihre Ehefrauen sie nicht allzu lange überleben würden.

Die jährlichen Beiträge wurden gemäß einer „Allerhöchsten Cabinets-Ordre vom 17ten Juli 1816“ vom Gehalt abgezogen und „direkt aus den Staats-Kassen an die Witwen-Kasse abgeführt.“ Wenn eine Frau vor ihrem Mann starb, verfielen die eingezahlten Beiträge und kamen der Versicherungsgesellschaft zugute.

Die preußische Witwen-Verpflegungsanstalt hatte in Deutschland in den 1750er Jahren einige kurzlebige Wegbereiter vor allem in kleineren, meist der Aufklärung verbundenen Herrschaften, wie Kassel, Lippe, Bremen oder Weimar. Die preußische Sozietät wurde 1775 gegründet. Sie stand anfangs allen Staatsbürgern offen. Allerdings konnten sich nur sehr wenige Menschen die Beitragszahlungen leisten. Nach dem Zusammenbruch der Witwen-Verpflegungsanstalt 1806 infolge der vernichtenden Niederlage des preußischen Heeres gegen die französische Truppen wurde die Sozietät 1816 reorganisiert. 1817 folgte der Beitritts­zwang für die verheirateten preußischen Staatsdiener. Die Versicherung erfuhr immer wieder Veränderungen in ihren Grundsätzen und Durchführungsbestimmungen, blieb aber bis zur preußischen Sozialgesetzgebung Ende des 19. Jahrhunderts gültig.

Die Witwe Henriette Rosenkötter zog nach dem Tod ihres Ehemannes zunächst zu ihren Töchtern nach Münster, später (1864) nach Elberfeld. Weil ihre Witwenpension ihr wohl nur ein sehr kärgliches Auskommen sicherte (um 1850 betrugen die Wochenkosten eines 5-Personenhaushaltes ungefähr 3 ½ Taler, also im Jahr ca. 180 Taler), verdienten sie und ihre Töchter als Weißstickerinnen etwas zu ihrem Lebensunterhalt dazu. Im Vergleich zu vielen anderen Witwen war ihre wirtschaftliche Lage dennoch privilegiert, mussten andere doch nach dem Tod des Ehemanns ohne Absicherung auskommen und waren auf Unterstützung ihrer Familien oder von Wohltätigkeitsorganisationen angewiesen.

Gut neun Jahre bezog Henriette ihre Witwenrente in Höhe von 75 Talern jährlich. Sie starb am 27. April 1869.