„Jüdisches für Nichtjuden“: Zvi Sofers Kochbuch von 1979

07.12.2021 Niklas Regenbrecht

„Das Jüdische Kochbuch“ von Zvi Sofer, Einband, Foto: Ann-Kathrin Holler.

Elisabeth Timm

1979 erschien im Münsteraner Verlag Wolfgang Hölker „Das Jüdische Kochbuch“ von Zvi Sofer. Der 160 Seiten starke Band ist, abgesehen vom Papier mit hohem Holzanteil, aufwändig ausgestattet: Den festen blauen Leineneinband schmückt ein weiß aufgedrucktes Muster aus Davidsternen und Menora, das Cover ziert eine Papiervignette (Abb. 1). Als Druckerei ist das Druckhaus Cramer in Greven genannt, die buchbinderische Veredelung besorgte die Firma Klemme und Bleimund in Bielefeld. Deren Etikettiermaschine war damals ein Geheimtipp, auch der in Berlin angesiedelte Verlag Klaus Wagenbach ließ dort seine Bücher veredeln (Wagenbach et al. 1994). Alle Seiten sind mit einem Schmuckrahmen in Blau verziert, hinzu kommen mehrere Dutzend Zeichnungen sowie Reproduktionen von Gemälden und Fotografien.

Das Etikett auf dem Cover zeigt einen Ausschnitt der Lithografie „Le bon Kouguel“ (1886) aus der berühmten Serie des Künstlers Alphonse Lévy (1843–1918) über dörfliches jüdisches Leben im Elsaß: engverbunden genießt ein lächelndes Paar den Geruch des im Topf dampfenden Essens. Im Kapitel der Rezepte für „Kugel“ findet sich dieser Ausschnitt nochmals ganzseitig vergrößert, Sofer erläutert dazu: „Der (jawohl ‚der‘ Kugel!) ist ein weiteres Schabbatgericht. Er ist nicht immer rund, wie man annehmen könnte, sondern wird, wie der Tscholent, häufig in einer Auflaufform gebacken. Kugel ist ebenso beliebt wie Tscholent, ist aber häufig parve, d.h. neutral, nämlich weder mit Milch noch mit Fleisch.“ (S. 99, Abb. 2) Die Lithografien von Lévy waren 1886 in einem Band des Schriftstellers, Ethnografen und Journalisten Léon Cahun (1841–1900) mit dem Title „La vie juive“ publiziert und 1903 erneut mit einer Ausstellung in Paris als „Scènes familiales juives“ bekannt gemacht worden. Lévy und Cahun hatten ihre Kindheit im Elsass verbracht und sahen sich als Dokumentaristen des dortigen Landjudentums. Von Seiten des städtischen Judentums wurden sie kritisiert: Sie würden jüdisches Leben als rückständig zeigen. Andere betonten Alphonse Lévys künstlerisches Anliegen, er wolle kein Abbild sondern ein freudvolles Lebensbild vermitteln: „Sie muten uns denn auch allerliebst unmodern und altfränkisch an, diese Vorfahren, diese Juden und Jüdinnen aus den kleinen Städtchen und Dörfchen des Elsass und Lothringens, wo sich die Ueberreste ehemals blühender Gemeinden erhalten haben. Da ist die Frau, die mit triumphierender Miene die Stürze von der Kasserole abhebt, um dem Gatten die wohlgelungene ‚Kugel‘ für Sabbat, diese Götterspeise zu zeigen, die bekanntlich von Engeln gargekocht wird.“ (NN 1905: Sp. 318) Weitere sieben Illustrationen im Kochbuch wählte Sofer aus einer Serie, die ebenfalls im blühenden Zeitschriftenmarkt des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert populär geworden war: Moritz Daniel Oppenheims Gemäldezyklus „Bilder aus dem altjüdischen Familienleben“, in denen er fromme Familien an jüdischen Festtagen in häuslichen Szenen zeigte (Jüdisches Museum Frankfurt o.D., dort auch die folgenden Informationen hierzu). Mit der Wahl dieser beiden Bildserien verknüpfte Zvi Sofer eine Erbschaft aus zwei Welten: Oppenheims Betonung von Familienintimität nach dem Vorbild des wohlhabenden christlichen Bürgertums im 19. Jahrhundert und Lévys Erinnerungen an das prekäre jüdische Leben auf dem Land, wobei beide Bilderwerke jeweils auf ihre Weise sowohl die Hoffnung seit der jüdischen Emanzipation, als auch die Erfahrung des Antisemitismus in Deutschland und Frankreich spiegeln. Dazwischen finden sich im Kochbuch fotografische Dokumente, deren spärliche Angaben an die Präsenz von Jüdinnen und Juden im Alltag erinnern, etwa ein „Metzgerschild mit der Inschrift ‚Hier ist koscher Fleisch zu haben‘ Deutschland 19. Jahrhundert“ auf S. 76 und mit der Übersetzung der hebräischen Zeilen in den Bilderläuterungen auf S. 158, oder die Aufnahme eines Schaufensters (S. 132), nachgewiesen und ebenfalls übersetzt aus dem Hebräischen „Krämerladen in Antwerpen 1978 / die Fensterinschrift heißt: ‚Koscher‘. Mit anderen Worten kann man hier koschere Ware bekommen.“ (S. 159).

„Das Jüdische Kochbuch“ von Zvi Sofer, S. 98/99, Foto: Ann-Kathrin Holler.

Weitere Fotografien und Zeichnungen im Kochbuch zeigen Ritualgegenstände, beispielsweise Besamimbüchse, Purimteller und Sabbatlampe. Zvi Sofer verwendete hier eine sehr kleine Auswahl aus seiner Sammlung an Gegenständen, die man in der Museologie ‚Judaica‘ nennt. Seit den 1950er Jahren hatte er diese in seiner Münsteraner Wohnung zusammengetragen. Sein Interesse für jüdische und jiddische Geschichte und Kultur speiste sich aus seinem Lebensweg: 1911 in einer orthodox-jüdischen Familie im galizischen Jaltuszkow (damals zum Russischen Reich gehörig, heute in der Ukraine gelegen) geboren, ging er nach dem Besuch einer Religionsschule und des Gymnasiums in den 1920er Jahren zuerst nach Palästina, in den 1930er Jahren dann zum Studium unter anderem der Musikwissenschaft an die Universität Wien und begann zudem am 1925 in Vilnius gegründeten Yidisher visnshaftlekher institut (YIVO, heute Institut for Jewish Research, New York (Kutznitz 2014)) mitzuarbeiten. Dort widmete man sich der jüdischen und jiddischen Kultur vor allem in Osteuropa, zunächst in Tradition der universalistisch denkenden, vergleichenden Folklore-Studien wie sie im Zuge von Modernisierung, Säkularisierung und Urbanisierung volkskundliche Initiativen seit dem 19. Jahrhundert überall auf der Welt betrieben (Safran/Kilcher 2016). Mit dem Aufkommen der faschistischen Bewegungen und neuer Pogrome gegen Jüdinnen und Juden wurde aus diesem wissenschaftlichen Unternehmen dann auch eine Dokumentation des jüdischen Lebens bis zu dessen Zerstörung überall in Europa durch den völkischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg des NS-Staats. Sofer kehrte Ende der 1930er Jahre nach Palästina zurück, betrieb dort auch ethnologische Feldforschung, und reiste in den 1950er Jahren im Auftrag des Israeli Folktale Archives in Haifa wieder nach Europa, wo er in der Bundesrepublik Kontakte zur damaligen Volkskunde aufnahm und schließlich 1965 beim Erzählforscher Kurt Ranke an der Universität Göttingen promoviert wurde. Von 1966 bis zu seinem Tod 1980 arbeitete Zvi Sofer als Wissenschaftler am Institutum Judaicum Delitzschianum (IJD) in Münster – damit war er in der akademischen Welt etabliert, allerdings in einer Einrichtung, die jüdische Gelehrte lange wegen des theologischen Ziels der antisemitischen „Judenmission“ einbezogen hatte. Sofer lehrte dort Hebräisch, chassidische und jiddische Literatur und war Kantor in mehreren jüdischen Gemeinden. Und er war maßgeblich an der neuen Ausrichtung des IJD weg von der Mission hin zum christlich-jüdischen Dialog beteiligt. Dafür engagierte er sich auch mit Kursen an der Volkshochschule und mit international beachteten Wanderausstellungen. Diese Ausstellungen bestückte er mit Exponaten aus seiner Sammlung; diese Gegenstände waren mit der Katastrophe der Shoah auf den Antiquitäten- und Kunstmarkt gekommen. Sie stammten auch aus christlichen Privathaushalten in Deutschland und anderswo, hatten zwischen 1933 und 1945 doch nicht nur Museen und andere Einrichtungen der öffentlichen Hand Kunstwerke, sondern auch Privatpersonen Alltagsgegenstände ihrer vertriebenen und ermordeten jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn geraubt oder bei Versteigerungen erworben. Jahrzehnte später bildete Sofers Sammlung den Grundstock des Jüdischen Museums in Berlin. Sein Kochbuch von 1979 illustrierte er mit Fotos einiger seiner Sammlungsstücke. Im Kapitel 12. „Jüdisches für Nichtjuden“ erklärte der Autor jüdische Festtage und kulinarische „Begriffe und Namen“, beispielsweise „Farfel – in Süddeutschland unter ‚Riebele‘ bekannt“ (S. 144-148). Jiddische Kultur kommt auch vor, wird aber nicht so genannt, sind doch zu einzelnen Rezepten Sprichworte eingefügt, die nicht als „jiddisch“, sondern als „jüdisch“ bezeichnet sind. Ob das eine Entscheidung des Autors oder des Verlagslektorats war, ist nicht bekannt. So heißt es etwa zu den vier Kugel-Rezepten: „As a jüdine ken kejn kugel nit machen, kumt ihr a get. / Wenn eine Jüdin keinen Kugel zubereiten kann, schicke ihr einen Scheidungsbrief. (Jüd. Sprichwort)“ (S. 97)

In Zvi Sofers Kochbuch ist die Shoa mit keinem Wort erwähnt, die Erklärungen zu den jüdischen Speisegesetzen und Feiertagen sind ebenso wie die Rezepte in der Gegenwartsform geschrieben. Ohne das so zu benennen, vermitteln die Illustrationen mit der Kunst aus dem 19. Jahrhundert und den Dingen, die niemanden zu gehören scheinen, dabei den Eindruck einer untergegangenen Welt, eines immensen Verlusts. Dem stellte Sofer den kulinarischen Reichtum zur Seite: Wenn er etwa „die russische Spezialität ‚Borschtsch‘“ in sechs unterschiedlichen Rezepten vorstellt („Borschtsch mit Fleisch“, „Weißkohl-Borschtsch“, „Ukrainischer Borschtsch“, „Tschorba mit Fleischklößen (rumänischer Borschtsch)“, „Borschtsch aus Kohl mit Preiselbeeren (heiß und kalt zu essen) Ein köstliches Sommergericht!“, „Kalter Borschtsch“) (S. 56-61), oder wenn er sich im Vorwort bei „allen Damen aus dem In- und Ausland, die bei der Rezeptauswahl geholfen haben, recht herzlich“ bedankt (S. 7).

„Das Jüdische Kochbuch“ von Zvi Sofer, S. 158/159, Foto: Ann-Kathrin Holler.

Die nicht-jüdischen Deutschen, an die sich Sofer mit dem Buch richtete, konnten sich dazu die unbequeme Frage stellen, warum im Alltag von jüdischer Religion und Kultur nichts mehr zu sehen ist, oder nur für diejenigen, die die Reste der Zerstörung und den prekären, immer antisemitisch angefeindeten Wiederbeginn jüdischen Lebens sehen wollten. Das Jahr 1979 war in dieser Hinsicht ein Wendepunkt, viele einzelne Initiativen wie die von Zvi Sofer, und im Januar des Jahres die Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust“ in den dritten Programmen der ARD führten zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte. Das, was wir heute Gedenk- und Erinnerungskultur nennen, begann sich zu entwickeln. In den jüdischen Gemeinden entstand neues Leben auch durch die Zuwanderung von Jüdinnen und Juden unter anderem aus der früheren Sowjetunion seit 1989. Dass sie die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten, konnte nichts wiedergutmachen, war aber ein notwendiges Zeichen der Übernahme historischer und politischer Verantwortung durch die Bundesrepublik.

In diesen Wochen geht das Festjahr „2021 – Jüdisches Leben in Deutschland“ zu Ende, das mit seinen vielen Feiern und Veranstaltungen nicht nur jüdisches Leben feiern, sondern auch „deutliche Zeichen gegen einen wachsenden Antisemitismus“ setzen will, so der Trägerverein auf dem Flyer. Zvi Sofer nannte das nicht so, hatte aber mit seinem Kochbuch Ähnliches im Sinn. Er verstand es als ein populäres Mittel der Information über jüdische Religion und Kultur: „Mit diesem Kochbuch soll der Versuch gemacht werden, die jüdische Küche, religiöses Brauchtum, soweit es Essen und Trinken betrifft, und die jüdischen Eßgewohnheiten dem interessierten Leser mitzuteilen“ (S. 6f.). Aber auch schon zu seiner Zeit war klar, dass Antisemitismus kaum ein Problem fehlenden Wissens ist, sondern eine strafbare Menschenfeindlichkeit, deren Bekämpfung vor allem eine Aufgabe der Staatsanwaltschaft und der Polizei ist: Hatte doch die Münsteraner Universität 1977 Strafanzeige erstattet und Sofer Solidarität ausgesprochen, als das Institut, an dem er tätig war, auf einer Länge von 25 Metern mit antisemitischen Parolen beschmiert worden war.


Quelle:

Sofer, Zvi (1979): Das Jüdische Kochbuch. Münster: Verlag Wolfgang Hölker.

 

Alle Informationen zum Leben und Werk Zvi Sofers aus: Augustin, Anna-Carolin (2019), Zwi Sofer. Ein Sammler und seine Sammlung, www.jmberlin.de/node/6035 (9. November 2021).

 

Literatur

Cahun, Léon (mit einem Vorwort von Zadok Kahn und Illustrationen von Alphonse Lévy) (1886): La vie juive. Paris: Monnier, de Brunhoff et Cie.
Kuznitz, Cecile Esther (2014): YIVO and the Making of Modern Jewish Culture: Scholarship for the Yiddish Nation. Cambridge: Cambridge U niversity Press´.
NN (1905): Alphons Levy. In: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für modernes Judentum. Heft 5 (Mai), Sp. 317-320.
Jüdisches Museum Frankfurt (o.D.): Moritz Daniel Oppenheim (1800 – 1882). Der erste jüdische Maler, https://www.juedischesmuseum.de/sammlung/bildende-kunst/detail/moritz-daniel-oppenheim-1800-1882/ (11. November 2021).
Safran, Gabriella; Kilcher, Andreas (eds.) (2016): Writing Jewish Culture. Paradoxes in Ethnography. Bloomington: Indiana U niversity Press.
Verein 321–2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e.V. (2021): Flyer zum Festjahr, https://2021jlid.de/ (11. November 2021).
Klaus Wagenbach im Gespräch mit Rudolf Gier und Joachim Feldmann (1994): „Von der Diktatur des Lektorats“, in: Am Erker Nr. 28 (1994), https://amerker.de/int28.php (9. November 2021).

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